Begegnungen schaffen

Der Wirkungsbericht der Caritas Steiermark zeigt anhand von zwölf persönlichen Geschichten beispielhaft, wie vielfältig die Hilfe der Caritas ist und wie die Arbeit der Hilfsorganisation im Jahr 2018 bei den Menschen angekommen ist. Die darin geschilderten Schicksale sollen Einblick in teilweise fremde Lebenswelten geben und so eine Form der Begegnung schaffen.

Statt eines klassischen Vorwortes soll an dieser Stelle deshalb auch ein Dialog in den Caritas Wirkungsbericht 2018 einführen: Im hier folgenden Video blicken die Grazer Filmemacherin Marie Kreutzer und Caritasdirektor Herbert Beiglböck gemeinsam auf das Jahr 2018 zurück, um dabei Themen wie Caritas, Kunst, oder den Zusammenhalt und das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft zu beleuchten.

Eine Kurzversion des Videos finden Sie unter diesem Link, weiter unten können Sie das Gespräch außerdem noch einmal nachlesen.

 

Marie Kreutzer & Herbert Beiglböck

Das Gespräch zum Nachlesen

Wie haben Sie als Kunstschaffende bzw. als „normale“ Bürgerin im vergangenen Jahr die Arbeit der Caritas wahrgenommen?

Marie Kreutzer: Was ich im letzten Jahr am meisten wahrgenommen habe, waren die Auseinandersetzungen zwischen der Politik und der Caritas und ähnlichen Organisationen. Also wie da mit der Arbeit einer Organisation wie der Caritas Politik gemacht wird und gegen die gearbeitet wird. Aber ich glaube, das hat auch den positiven Effekt, dass die Leute wieder genauer hinschauen und sich wieder bewusster machen, wofür Organisationen wie die Caritas eigentlich stehen und was sie für die Gesellschaft tagtäglich tun.

Herbert Beiglböck: Was ist aus ihrer Sicht in der Gesellschaft passiert, dass da plötzlich diese Konfliktsituation aufbrechen kann?

Marie Kreutzer: Ich würde mir nicht zutrauen, in wenigen Sätzen zu sagen, was über längere Zeit in der Gesellschaft passiert ist, aber es findet in der momentanen Situation in unserem Land – ausgehend von der Politik und leider auch mitgetragen von vielen Medien – eine Fokussierung auf Gefühle wie Angst und Wut statt. Und auch eine Fokussierung auf das Ego und das eigene Leben. Sozusagen eine Zuspitzung darauf, den Menschen andauernd zu sagen: Du musst schauen, dass du deines behältst und dass dir das keiner wegnimmt. Ich glaube, das ist – kurz gesagt – etwas, das passiert ist in den letzten Jahren und das gerade vielfältig geschürt wird in der Gesellschaft … Dieses Gefühl, sich und das eigene, kleine Dasein schützen zu müssen vor irgendetwas Gefährlichem, das von außen kommt. Sei es durch Migration oder durch Armut.

Herbert Beiglböck: Das ist das Schwierige für uns, weil wir als Caritas glauben, dass wir in einer Situation sind, wo es vielen Menschen so gut geht, wie kaum je zuvor. Selbst den Armen geht es verhältnismäßig besser als in anderen Ländern. Und in dieser Phase, in der es uns so gut geht, in der wir eine soziale Stabilität haben, bricht plötzlich ein Angstfaktor auf. Daraus entsteht Missgunst. Markus Hinterhäuser, der Intendant der Salzburger Festspiele, erkennt Hartherzigkeit, der Papst hat zuletzt von den gepanzerten Herzen gesprochen – Beobachtungen, die schwer rational zu erklären sind.

Marie Kreutzer: Es gibt inzwischen Studien, die besagen, dass die Empathie wahnsinnig begrenzt ist. Das hat mich so getroffen. Die Menschen machen zuerst auf und wenn sie zu viel Leid sehen oder spüren, machen sie irgendwann wieder zu. Ich weiß nicht, wovor man dann Angst hat – vielleicht vor Ansteckung. Und dann verhärten die Fronten so stark. Das wird natürlich auch geschürt.

Herbert Beiglböck: In einer Zeit, in der wir sehr viele Informationen über das vielfältige Leid auf unserer Welt erhalten, braucht es auch einen Mechanismus, um uns zu schützen. Ich kann weder als Einzelner noch als Organisation alles Leid der Welt beenden. Aber bei allem Verständnis dafür, bleibt die beunruhigende Frage danach, warum oft keine Betroffenheit durch die unmittelbare Not da ist, warum die Hartherzigkeit so leicht gefördert werden kann und plötzlich zu einem bestimmenden Gefühl in unserer Gesellschaft wird. Das wird uns noch beschäftigen in nächster Zeit und ich fürchte, dass das die eigentliche Bedrohung in unserer Gesellschaft ist. Es wird keine Verschuldungspolitik sein. Neben der Klimakatastrophe ist sozusagen das Klima der Herzen, das sich hier verschiebt, die große Gefährdung, die ich da sehe.

"Neben der Klimakatastrophe ist das Klima der Herzen, das sich hier verschiebt, die große Gefährdung, die ich sehe."

Herbert Beiglböck

Teilhabe ermöglichen

Wo führt das ganz konkret hin? Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?

Herbert Beiglböck: Ich glaube, wenn wir große Teile der Bevölkerung von der Teilhabe an dem ausschließen, was wir als gesellschaftliches, kulturelles, sportliches Leben bezeichnen, wird das auf Dauer nicht gut gehen. Diese Ausgeschlossenen werden sich wehren, sie wollen Anteil haben an dem, was Leben ist, was ihre Chancen sind und ihre Begabungen. Das gefährdet unsere soziale Stabilität und letztlich auch den sozialen Frieden, den wir haben. Alle Geschichte lehrt uns – und das ist auch meine Überzeugung ­– dass wir nicht auf Dauer größere Gruppen zurücklassen können. Es geht immer um Teilhabe am Leben.

Marie Kreutzer: Ich habe jetzt auch ein bisschen darüber nachgedacht, was sich da so stark verändert hat und ich glaube, es ist im Moment schon ein Übermaß an Information vorhanden. Man kann sich aussuchen, woher man seine Informationen bezieht. Wenn man jeden Tag die gleiche Zeitung liest, kann man ein ganz anderes Weltbild haben, als jemand der jeden Tag eine andere Zeitung liest.

Dadurch haben wir ein Gefühl von Informiertheit aber auch die ganze Zeit ein Gefühl von Überfluss an Information und ich habe das Gefühl, dass das dann oft eine Gegenreaktion hervorruft, wo man sich verschließt. Das war vielleicht früher ganz anders: Man wusste vielleicht weniger davon, was irgendwo anders auf der Welt passiert, aber man war vielleicht zumindest dort menschlicher oder pragmatischer, wo man es unmittelbar erfahren hat und wo man betroffen war. Ich finde ja oft, dass die Reaktionen darauf, wie Menschen heute auf Not reagieren – oder nicht reagieren – etwas sehr emotionales, trotziges und direkt aggressives haben. Hilfeleistung und viele der Interessen, die auch die Caritas vertritt, sind ja auch pragmatische, nämlich die Gesellschaft erhaltende, Interessen. Die wollen ja niemandem anderen etwas wegnehmen oder schaden.

Herbert Beiglböck: Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen, die genau auf diese geschlossenen Informationskreise hindeutet: Vor ein paar Monaten war ich auf einer Geburtstagsfeier von einem Freund. Ungefähr 20 Jugendliche und junge Erwachsene, die auf der Feier waren und die ich seit Jahrzehnten kenne, haben mich in die Zange genommen und gesagt: ‚Wegen deinen Leuten, wegen den Caritas-Leuten, müssen wir so hohe Steuern bezahlen. Das Spannende war für mich, dass das keine Typen sind, die sich nicht sozial agieren wollen. Die gehen zum Beispiel nach Santiago de Compostela und haben durchaus ein soziales Bewusstsein. Aber die kennen niemanden von den Leuten, mit denen wir als Caritas täglich arbeiten. Die haben keine Vorstellung, dass es Menschen gibt, die arbeiten wollen und keinen Arbeitsplatz finden. In ihrer Welt sind sie ständig auf der Suche nach Arbeitskräften. In diesem Gespräch habe ich gelernt, dass es eine unserer Aufgaben sein wird, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, um diese ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Welten miteinander ins Gespräch zu bringen. Das, was uns beschäftigt und was die Sehnsüchte der Menschen sind, mit denen wir täglich zu tun haben, muss auch für Gruppen zugänglich werden, die kaum Begegnungsmöglichkeiten mit ihnen haben. Weil diese geschlossenen Informationskreise dann plötzlich eigene Welten schaffen.

Was sollte bei den Menschen von der Arbeit der Caritas hängen bleiben und spürbar sein?

Herbert Beiglböck: Was mir wichtig ist, ist einen Blick zu haben, dass es Frauen, Männer und Jugendliche gibt, die das Gefühl haben, in der Entfaltung ihres Lebens behindert oder gehemmt zu sein. Weil sie ganz schlechte Wohnsituationen haben, weil sie in den Bildungschancen begrenzt sind, weil niemand sie fördert. Das heißt, da gibt es viele Menschen, die wollen etwas, aber die können aus unterschiedlichen Gründen nicht. Die Caritas möchte an der Seite dieser Menschen sein und die Not zuerst einmal lindern. Und wir möchten sie auch befähigen, damit sie wachsen können, in dem, was sie sind. Das ist für uns eine Schlüsselfrage: Wir wollen die Menschen nicht in der Not belassen, sondern sie befähigen. Es wäre gut, wenn dieses Spannungsfeld zwischen helfen und befähigen prägend wäre, für das, was Caritas ist.

 

"Es sollte ein Berufsheer geben und alle in diesem Alter sollten dazu verpflichtet werden, ein soziales Jahr zu machen. Einfach, um einmal ein bisschen ihren Horizont zu erweitern und etwas anderes zu sehen."

Marie Kreutzer

Geschlossene Kreise

Frau Kreutzer, in ihrem aktuellen Film „ Der Boden unter den Füßen“ ist die Schwester der Protagonistin psychisch krank. Wie erleben Sie in Österreich den Umgang mit Armen, Migranten, Alten, psychisch Kranken – also mit Menschen, die oft am Rand unserer Gesellschaft stehen? 

Marie Kreutzer: Grundsätzlich eher problematisch. Es gibt natürlich für alles Gegenbeispiele, es ist also nicht hoffnungslos. Aber ich habe schon das Gefühl – und darum geht es in meinem Film ja unter anderem auch – dass der Anspruch, den die Gesellschaft an die Menschen stellt, die sozusagen eh alles haben und die „funktionieren“ auch pausenlos steigt. Das heißt, dieser Anspruch in allen Bereichen unseres Lebens ständig das Meistmögliche zu leisten, dem wir dauernd gerecht zu werden versuchen, nimmt unsere Aufmerksamkeit und unser Leben eigentlich ein. Das ist wohl auch ein Grund, warum wenig Empathie, oder Bereitschaft, für Schwächere da zu sein, vorhanden ist. Damit will ich niemanden entschuldigen, aber man merkt im Alltag einfach ganz stark, dass die Menschen wirklich sehr mit ihrem eigenen Stress beschäftigt sind. Eine Person im eigenen Umfeld aufzufangen, der es schlecht geht, ist zum Beispiel oft etwas, das wir gar nicht mehr zu leisten im Stande sin. Darum geht es auch in meinem Film und das ist etwas, das ich sehr problematisch finde.

Was mir jetzt, wo ich noch einmal darüber nachgedacht habe, aufgefallen ist: Wir leben in Wien in der Nähe der Gruft, die ja auch von der Caritas betrieben wird, und bringen dort immer wieder Sachspenden hin. Im vergangenen Jahr haben wir dann auch einmal etwas in eine andere Einrichtung gebracht. Das sind immer schöne Erlebnisse – auch für meine Tochter, die ich da immer sehr gerne mitnehme, weil ich will, dass sie das sieht. Das finde ich auch an diesen geschlossenen Kreisen so problematisch: Unsere Kinder, die sozusagen im Wohlstand aufwachsen, wo sich die Gesellschaft auch kaum mehr durchmischt, kriegen die Schwachen ja gar nicht mehr mit.

Wenn man sein Kind zum Beispiel nicht gezielt in eine integrative Schule schickt, dann bekommt es ja gar keine behinderten Kinder mit. Meine Tochter sieht arme Menschen nur, wenn sie vor dem Supermarkt auf der Straße sitzen. Das ist etwas, dass ich am Großstadtleben positiv finde: Dass es den Kontakt mit den Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, dauern gibt: Im öffentlichen Verkehrsmittel, im Supermarkt – überall. Unsere Kinder hinterfragen dadurch, wie wir mit diesen Menschen umgehen und sagen: ‚Mama, der hat ja jetzt nichts gegeben und wir schon‘ oder was auch immer.  Im Alltag ist eine Berührung da und man ist nicht so hermetisch in seiner Welt. Ich finde, dieses Zusammenbringen ist etwas, das ich für die Zukunft sehr wichtig finde. Das Sichtbarmachen der anderen müsste in unserer Gesellschaft eine viel größere Rolle spielen müsste.

Ich habe vor kurzem mit einer Freundin gesprochen, deren Sohn jetzt Zivildienst macht. Sie wollte ihn nicht drängen, wollte aber lieber, dass er Zivildienst macht und er hat sich jetzt dafür entschieden. Wir finden beide – und wir sind beide glühende Feministinnen – dass junge Frauen das auch machen müssten. Es sollte ein Berufsheer geben und alle in diesem Alter sollten dazu verpflichtet werden, ein soziales Jahr zu machen. Einfach, um einmal ein bisschen ihren Horizont zu erweitern und etwas anderes zu sehen, denn heute lebt wirklich ein Großteil unserer Gesellschaft in Wohlstand und dadurch sehr abgeschottet und sehr geschützt vor allem, was es sonst noch gibt.

Herbert Beiglböck: Ich bin sehr froh, dass sie das sagen, weil ich in den letzten Monaten auch ein paar Mal benannt habe, dass wir darüber nachdenken müssen, ob es Modelle gibt, so ein verpflichtendes Soziales Jahr einzuführen, damit genau diese Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. Wir können bei den etwa 100 Zivildienern , die bei der Caritas Steiermark im Einsatz sind beobachten, dass sie verändert hinausgehen und es bleibt ein anderer Blick auf die Menschen, die hier um ihre Lebenschancen kämpfen.

"Wir wollen ein Netzwerk der Nächstenliebe sein, wo niemand durchfallen kann, bei dem aber auch alle, die helfen wollen und die ein Teil dieses Bündnisses sein wollen, wissen dass sie sich dort hinwenden können. "

Herbert Beiglböck

Ein Netzwerk der Nächstenliebe

Spüren Sie als Filmemacherin eine Verantwortung, gesellschaftliche Entwicklungen in ihre Arbeit aufzunehmen, etwas zu bewegen oder zu verändern? (20:30)

Marie Kreutzer: Das war sicher nicht meine Grundintention, warum ich Filme mache. Ich habe immer Geschichten geschrieben, schon als Kind. Ich wollte einfach immer Geschichten erzählen und das waren auch ganz oft ganz banale. Ich merke aber natürlich einfach, dass die Geschichten nicht von irgendwo kommen, sondern ich werde durch alles inspiriert, was ich sehe und erlebe. Es ist glaube ich unmöglich, als jemand, der Geschichten erzählt, die eigene Haltung zu verbergen, die kommt sowieso raus. Jede Geschichte, die man erzählt, ist auch in irgendeiner Art politisch, weil sie in irgendeiner Art etwas bewertet oder interpretiert, was da erzählt wird – und sei es noch so banal. Was ich aber nicht möchte – auch, weil ich es als Zuschauerin nicht so gerne mag – ist, Filme zu machen, die dem Zuschauer erklären, wie er zu denken hat und wie er das zu sehen hat. Ich erzähle es gerne so, dass man sich sein Bild machen kann, ohne das Gefühl zu haben, man geht raus und es ist einem etwas erklärt worden.

Herbert Beiglböck: Haben Sie eine Vorstellung, wie wir als Caritas genau diesen Ansatz auch in die Gesellschaft einbringen können? Wir sagen manchmal, wir möchten nicht ein weiterer Stressfaktor sein. Wie kriegen wir das hin? Was braucht die Gesellschaft, damit sie sich stressfrei zum Guten verändert?

Marie Kreutzer: Puh. (lange Pause) Es ist so wahnsinnig schwer … Es ist banal, aber ich finde schon, dass persönliche und zwischenmenschliche Erlebnisse etwas verändern. Auch wenn es oft unangenehm ist, ist es wichtig, auch mit Menschen im Gespräch zu bleiben, die anderer Meinung sind und sich nicht zu sehr gegeneinander zu verhärten. Ich weiß nicht, ob das so wahnsinnig viel verändert, aber ich tue es trotzdem.

In der momentanen politischen Situation, die in Österreich für mich ziemlich düster aussieht, macht es mir Hoffnung, dass gleichzeitig etwas ganz gutes passiert: Nämlich, dass unter den Menschen, die wie ich sehr kritisch gegenüber der Arbeit unserer Regierung sind, neue Schulterschlüsse, oder zumindest gefühlsmäßig neue Verbindungen gibt. Dass es zum Beispiel nicht mehr so sehr darum geht, welche Partei man wählt, oder was auch immer einen da so irgendwie einteilt. Es gibt dort, wo man sich einig ist, eine neue – im positiven Sinn – Pragmatik. Und es ist immer wieder schön, wenn ich dann sehe: Ah, der und der, wo ich es nie gedacht hätte, sieht es aber vielleicht ganz ähnlich wie ich.

Deswegen glaube ich, es ist eine sehr unmenschliche Welt, weil Agorithmen so eine Macht haben auf uns, weil Medien so eine Macht haben, weil das Persönliche so wenig zu zählen scheint, aber vielleicht ist es gerade deshalb – ganz romantisch gesprochen – was helfen könnte. Das man wirklich miteinander in Kontakt bleibt und miteinander spricht. Es klingt total banal, aber …

Herbert Beiglböck: Nein, nein, das sehen wir selbst auch ähnlich: Wir wollen im Grunde ein Netzwerk der Nächstenliebe sein, wo niemand durchfallen kann, bei dem aber auch alle, die helfen wollen und die ein Teil dieses Bündnisses sein wollen, wissen dass sie sich dort hinwenden können. Ein Rückgrat für jene, die sagen, wir machen Netzwerke, damit in der Gesellschaft ein bisschen mehr an Menschlichkeit erlebbar und spürbar ist. Das ist schon etwas, wovon ich auch glaube, dass es uns auszeichnen kann und das ein Teil unseres Markenkerns sein kann: Zu sagen, jeder, der helfen will, findet einen guten Ort, wo er sich beteiligen kann. Da schaffen wir etwas, das möglicherweise – und hoffentlich – eine Gegenwirklichkeit ist zu dem, was wir politisch erleben und was wir vielleicht auch in dieser technisierten Welt erleben.

"Eine Gesellschaft, die so stark von ökonomischen Zwängen geprägt ist, auch von der Logik der Digitalisierung – wie wichtig das auch sein mag – braucht Kräfte und Überlegungen, die eine andere Wirklichkeit durchscheinen lassen."

Herbert Beiglböck

Kunst & Gesellschaft

Welche Rolle können Film, Literatur und Kunst im Allgemeinen für ein besseres Miteinander in unserer Gesellschaft spielen?

Herbert Beiglböck: Ich glaube, sie spielen eine extrem wichtige Rolle. Eine Gesellschaft, die so stark von ökonomischen Zwängen geprägt ist, auch von der Logik der Digitalisierung – wie wichtig das auch sein mag – braucht Kräfte und Überlegungen, die eine andere Wirklichkeit durchscheinen lassen. Und das ist vielfach die Kultur, die Literatur, die Filme, letztlich auch die Musik. Neben dem, was so verzweckt in unserer Gesellschaft abläuft, zu sagen, was ist eine Wirklichkeit, die dahinter abläuft, die unser Leben schön macht. Da ist jede Form von Kultur ganz wichtig.

Marie Kreutzer: Ich habe auch immer das Gefühl, dass es so wichtig ist, der ‚Plastikkultur‘ etwas entgegenzusetzen. Es ist wahnsinnig viel Geld dort drinnen, wo es sehr ‚mainstreamig‘ und sehr glattgebügelt ist, wo es niemandem wehtut und wo es letztlich immer nur darum geht, dass irgendein starker Mann die Weltherrschaft übernimmt oder was auch immer. Da gibt es so viel und da scheinen die Mittel unbegrenzt. Ich habe immer das Gefühl, alles, was es alternativ auch noch gibt, darf nicht verschwinden – einfach auch, um den Horizont ein bisschen weiter zu halten. Ich freue mich auch immer irrsinnig und versuche zu kommen, wenn es Schulvorstellungen meiner Filme gibt. Nicht, weil es mir so sehr um meinen Film geht, sondern weil es mir um eine kulturelle, künstlerische Bildung von Jugendlichen geht. Dass es eine Offenheit gibt, sich etwas anzuschauen – in dem Fall auch weil man muss – was man sich vielleicht sonst nicht au8sgesucht hätte. Dann sitzen die aber auch alle und wollen diskutieren. Und irgendetwas ist dann auch da, das sie interessiert und das etwas mit ihnen macht. Wenn ich regieren würde, würde es sowieso viel mehr Pflicht für eine kulturell künstlerische Ausbildung innerhalb der Schule geben. Zum Beispiel in Frankreich ist es ja ganz normal, dass Schulen pausenlos ins Kino oder ins Theater rennen. Das macht was mit einem.

"Ich glaube, das Alter ist etwas, wovor die meisten Menschen große Angst haben, weil wir alle uns das nicht vorstellen können. Und gerade in einer Gesellschaft, wo es so stark um die Leistung geht, aus dem sozusagen rauszufallen."

Marie Kreutzer

Altern als Herausforderung

Herbert Beiglböck: Ein Thema, das wir noch gar nicht erwähnt haben, ist das Thema der Einsamkeit, dass für mich auch ganz stark mit der Frage des Alterns zusammenhängt. Wir werden gottseidank immer älter und aus meiner Sicht ist es für uns als Caritas eine ganz große Herausforderung, wie wir diese Phase des Lebens so gestalten können, dass alte Menschen an diesem Leben teilhaben können. Egal, ob sie gesund, oder weniger gesund sind, da noch einmal ein erfülltes Leben spüren zu können. Ist das etwas, dass Sie für einen Film interessieren würde? Haneke hat das ja schon gemacht.

Marie Kreutzer: Bis jetzt hat sich mir das noch nicht als filmisches Thema aufgedrängt, aber ich habe natürlich auch schon persönlich ein bisschen was erlebt. Meine verstorbene Großmutter war sehr einsam und sehr schwermütig in ihren letzten Jahren. Sie war auch eine Zeit lang im Altersheim. Ich hatte die romantische Vorstellung, dass meine Oma wieder Freunde findet, wenn sie dort ist. Sie hat dann irgendwann zu mir gesagt: 'An meinem Tisch sind alle taub oder dement, mit wem soll ich mich da anfreunden?' Es ist also sogar auch in dieser Gruppe eine große Einsamkeit vorhanden gewesen. Ich glaube, das Alter ist etwas, wovor die meisten Menschen große Angst haben, weil wir alle uns das nicht vorstellen können. Und gerade in einer Gesellschaft, wo es so stark um die Leistung geht, aus dem sozusagen rauszufallen. Das ist ein riesen Thema in unserer Gesellschaft! Aus vielen Gründen hat man da Angst.

Herbert Beiglböck: Wobei ich selbst schon sehr, sehr hoffe – wir werden weiter eine wohlhabende Gesellschaft sein – dass wir genügend Kraft entwickeln, dass wir alle in einer halbwegs guten, vernünftigen, würdevollen Art auch das Alter erleben können. Ich halte es für eine Grundfrage und auch für eine Herausforderung an die politisch Verantwortlichen, da Modelle zu schaffen. Altern kann kein Einzelschicksal sein, sondern es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass das sauber finanziert wird, dass es verschiedene Modelle gibt. Ein Gedanke, der mir zum Beispiel zu kurz kommt, ist, dass wir sehr unterschiedlich alt werden: Es gibt 80-Jährige, die sind sehr gesund, andere sind schon sehr krank. Es wird sehr oft von der Solidarität gesprochen, ich halte es für spannend, wie denn die Solidarität der alten Menschen untereinander ist. Schaffen wir Modelle, bei denen die Gesunden ein Stück des Weges gemeinsam mit den weniger Gesunden gehen? So kann noch einmal entdeckt werden, dass ich eine Aufgabe wahrnehmen kann, damit für den anderen oder für die andere Leben gut gelingen kann.

"Die Frage, ob wir Menschen, die auf der Flucht sind begleiten und ihnen helfen wollen ist keine Entscheidung, die wir als Organisation einfach treffen können, das ist ein Grundauftrag des Evangeliums. Es gibt Dinge, die brauchen wir gar nicht zu diskutieren."

Herbert Beiglböck

Integration als Chance

Ein Thema, an dem wir in einem Caritas-Jahresbericht nicht vorbei kommen, ist das Thema Migration. Ist es berechtigt, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit so sehr im Gespräch ist und das medial so stark darauf fokussiert wird?

Marie Kreutzer: Wenn ich über Migration nachdenke, dann denke ich aufgrund von Zeitungsartikeln, Fernsehberichten und Radionachrichten darüber nach und wenig aus persönlichem Kontakt. Ich lebe in meiner Blase und da habe ich relativ wenig mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun. Und noch viel weniger mit Menschen, die innerhalb der letzten Jahre nach Österreich geflüchtet sind. Das heißt, die Gespräche, die ich führe mit Menschen, die meiner Meinung sind oder Menschen, die nicht meiner Meinung sind, haben wenig mit eigenen Erfahrungen zu tun – was auch wieder so ein Problem ist. Ich finde es auf jeden Fall ganz verkehrt, dass so viel Politik gemacht wird mit diesem Thema, das dieses Thema für so wahnsinnig viel herhalten muss. Darüber könnte man lange reden und das finde ich auf jeden Fall ganz falsch. Und sehr traurig, die Leute in einem der reichsten Länder der Welt so stark dahin erziehen zu wollen, dass sie dagegen sind, dass andere kommen.

Viel der Kritik an der Caritas hängt mit diesem Thema zusammen. Warum engagiert sich die Caritas trotzdem in diesem Bereich?

Herbert Beiglböck: Die Frage, ob wir Menschen, die auf der Flucht sind begleiten und ihnen helfen wollen, ist keine Entscheidung, die wir als Organisation einfach treffen können. Das ist ein Grundauftrag des Evangeliums. Es gibt Dinge, die brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Wir können das gar nicht anders handhaben, als Menschen, die auf der Flucht sind, zu stützen und ihnen so gut es geht Heimat zu geben. Wobei das ja im Augenblick nicht die Herausforderung in Österreich ist. Wir haben gottseidank – oder leider, das kann man schwer beurteilen – kaum Menschen, die zu uns kommen können, weil die Grenzen zu sind. Es ist aus meiner Sicht auch problematisch, dass wir versuchen uns bei all der Not, die wir global haben, so zu schützen und zu glauben, wir können eine globalisierte Welt nutzen, ohne auch die Schattenseiten mitzunehmen. Das wird nicht funktionieren. Aber die größere Herausforderung, die wir ganz aktuell haben, ist das Thema Integration. Einige hunderttausend Menschen sind zu uns gekommen, vielleicht knapp die Hälfte hat einen positiven Asylbescheid, andere sind noch hier. Das kann man als Belastung sehen, oder als riesige Chance, diese Menschen hier gut zu integrieren. Die allermeisten von diesen Menschen sind unglaublich leistungsorientiert, die wollen etwas bewegen in der Gesellschaft, die wollen sich einbringen. Da sehe ich mit großer Sorge, dass wir das Thema Integration vernachlässigen, dass wir Ghettos schaffen und dass wir Bildungschancen von Jugendlichen und Kindern sehr einschränken. Als Caritas wollen wir hier einen Beitrag leisten, dass Integration gelingt. Da braucht es aber auch ein viel, viel stärkeres gesellschaftliches Commitment, diesen Menschen eine gute Zukunft bei uns zu ermöglichen. Weil es menschlich gerechtfertigt ist – das brauchen die Menschen. Wenn man das nicht verstehen will, muss man auch sagen, dass es volkswirtschaftlich Sinn macht, weil diese demografische Situation uns auch helfen wird, uns im europäischen Verbund gut weiterzuentwickeln.

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